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Hektik in Bern

19. Juni 2009

Wir Schweizer sind stolz auf unser Milizsystem. Die Parlamentarier in Bern sollen Tuchfühlung zum realen Leben bewahren und neben der Politik eine zivile Tätigkeit ausüben. Auch die Politik verschreibt sich eine Sommerpause. Sie dauert von anfangs Juli bis Mitte August. Unterbrochen wird sie nur im Falle einer institutionellen Krise.

Jetzt ist in Bern Hektik ausgebrochen, nicht etwas im umtriebigen Nationalrat, sondern im für seine Besonnenheit bekannten Ständerat. Eine Mehrheit hat entgegen der Haltung des Ratsbüros dafür gesorgt, dass das Parlament sich anfangs August zu einer Sondersession und die zuständige Kommission sich in der zweiten Julihälfte treffen wird. Erreichen will man, dass die Neuregelung der Mehrwertsteuer, der Ausgleich der kalten Progression und die revidierte Familienbesteuerung auf den 1. Januar 2010 in Kraft gesetzt werden können. Die Motive sind unterschiedlich. Die FDP-Vertreter wollen sich profilieren und den umgehenden Ausgleich der kalten Progression als ihren alleinigen Verdienst darstellen. CVP-Exponenten pressiert es plötzlich ungemein bei der Entlastung der Familien, ein Anliegen, das zwar schon lange auf der Tagesordnung steht, aber erst jetzt als Profilierungsmöglichkeit erkannt und gepusht wird. Die SP hatte Entlastungen der Familien längst gefordert, leider erfolglos. Noch sind nicht alle Vorlagen dem Parlament zugestellt. Man politisiert, ohne zu wissen, welche finanziellen Auswirkungen auf Bund und Kantone zukommen. Erste Schätzungen rechnen mit Ausfällen bei den Kantonen in der Größenordnung von 380 Millionen Franken. Für das Baselbiet ist das sicher ein zweistelliger Millionenbetrag. Die Kantone, angeführt vom Präsidenten der Finanzdirektorenkonferenz, Regierungsrat Christian Wanner (FDP/SO), wehren sich zurecht gegen diesen Fahrplan, weil sie in Unkenntnis der Steuerausfälle für das kommende Jahr nicht budgetieren können und weil sie sich außerstande sehen, drei große Gesetzgebungen, von denen sie allesamt betroffen sind, gleichzeitig umzusetzen. Sie werden nicht gehört. Ihre Einwände stoßen bei denjenigen auf taube Ohren, die als Kantonsvertreter jedenfalls ihre eigene Regierung nicht übergehen sollten. Kleines Detail: die Kosten, die eine zweitägige Session auslöst, spielen für einmal keine Rolle.

Hektik zum zweiten: Im September wird über die Zusatzfinanzierung der IV abgestimmt.  Die Sanierung der IV ist ohne Zweifel dringend und zu befürworten. Natürlich ist eine Erhöhung der Mehrwertsteuer in Zeiten der Rezession nicht das Gelbe vom Ei. Das weiß das Parlament allerdings nicht erst seit gestern, sondern seit Herbst 2008. Die Verschiebung des Inkrafttretens der Erhöhung der Mehrwertsteuer war seither ein Thema. Aufgenommen wurde es erst, als die Vorlage für die Volksabstimmung, dh. ihr ganzer Inhalt längst beschlossene Sache war. Es fehlte lediglich noch die Zustimmung von Economiesuisse. Dies genügte, um an den letzen drei Sessionstagen einen Bundesbeschluss durchzusetzen, der die Abstimmungsvorlage abändert und ihr Inkrafttreten um ein Jahr verschiebt. Vom Ergebnis her ist das Vorgehen verständlich, demokratiepolitisch ist es bedenklich. Für einmal verstehe ich den Unmut der SVP und stelle mir vor, wie meine Partei reagieren würde, wenn das Parlament eine von ihr bestrittene Vorlage während des Abstimmungskampfes abändern würde, um ihre Erfolgschancen zu verbessern.

Hektik ist kein guter Ratgeber. Eine Notlage ist nicht gegeben, denn es ist nicht einmal bekannt, worüber das Parlament im August debattieren wird. Der Ständerat setzt sich dem Vorwurf aus, ohne die gebotene Seriosität zu legiferieren. Vor allem aber übergeht er die Kantone und nimmt keinerlei Rücksicht auf deren finanzpolitischen Herausforderungen. Bund und Kantone werden die Einnahmeneinbussen kompensieren. Noch weiß keiner, zu wessen Lasten.

Hektik und Miliz lassen sich nicht vereinbaren. Ein unsorgfältig und ohne Not unter Druck arbeitendes Milizparlament schwächt sich selber. Als Ständerat verstehe ich mich zunächst als Vertreter meines Kantons. Ich will nicht zulassen, dass die Kantone außen vor bleiben. Ich gebe meiner Hoffnung Ausdruck, dass die Kantone sich zur Wehr setzen. Die Finanzdirektorenkonferenz setzt sich vor allem aus Politikerinnen und Politikern von FDP und CVP zusammen. An ihnen liegt es, diejenigen Ständeräte, die in Hektik verfallen sind, zur Vernunft zu bringen. Mit dem Kantonsreferendum steht ihnen notfalls ein geeignetes und seit dem Debakel des Steuerpakets 2004 erprobtes Instrument zur Verfügung.

Trotz Sommerpause mache ich mich anfangs August für einmal widerwillig nach Bern auf, in der festen Absicht, auf die Bremse zu stehen. Im Interesse meines und der anderen Kantone!